Werner Girsch
Einleitung
Die Diagnose einer kongenitalen Deformität der oberen Extremität stellt trotz allem medizinischen Fortschritts, der Möglichkeit zur Früherkennung und vielfältiger Behandlungsmöglichkeiten in unserer zunehmend auf Perfektion ausgerichteten Gesellschaft gerade für medizinisch nicht vorgebildete Eltern zunächst eine Katastrophe dar. Aus diesem Grund ist es wichtig, sowohl das Kind als auch die Eltern von Anfang an zu begleiten, auf diese Weise Ängste zu nehmen und durch detaillierte und ehrliche Aufklärung realistische Erwartungen zu wecken. In den meisten Fällen ist es den Betroffenen möglich trotz ausgeprägter Fehlbildungen ein „normales“ und vor allem selbstbestimmtes Leben zu führen. Neben der spezifischen Behandlung der Deformität selbst ist auch die psychologische Situation der Eltern und des Kindes zu berücksichtigen und beginnt schon damit, von einer „Besonderheit“ statt einer „Fehlbildung“ zu sprechen.
Inzidenz, Genetik und Klassifikation
In Industrienationen liegt die Inzidenz angeborener Fehlbildungen der oberen und unteren Extremität bei etwa 1,5-3 Fällen pro 1000 Geburten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass „einfachere“ Fehlbildungen, wie Syn- oder Polydaktylien um ein Vielfaches häufiger vorkommen als komplexe Deformitäten wie Peromelie, Radius- oder Ulnahypoplasie. Wie in anderen Ländern existieren hierzu auch in Österreich keine validen Daten zur genauen Inzidenz, nachdem in der statistischen Dokumentation zwischen den unterschiedlichen Entitäten und ihren Ausprägungsformen nicht unterschieden wird.
Wie bei sämtlichen Organsystemen läuft auch die embryonale Extremitätenentwicklung genreguliert ab. Dieser äußerst komplexe Vorgang ist mittlerweile im Detail erforscht. So weiß man z.B., dass Syndaktylien ihre Ursache im Ausbleiben des programmierten Zelltods haben, und dass ein genbedingter verfrühter Wachstumstop das Fehlen oder Hypoplasien von Strukturen in der Längsachse zufolge hat. Die Fehlbildung treten meist unilateral, selten bilateral auf und sind gelegentlich Syndrom-assoziiert. Auffallend ist, das kongenitale Fehlbildungen an den Extremitäten äußerst selten mit mentaler Retardierung vergesellschaftet sind und eine völlig normale geistige Entwicklung erwartet werden kann. Ein klarer Strich muss zwischen der „Gen-bedingten“ Entstehung und der Erblichkeit gezogen werden: naturgemäß entstehen alle Deformitäten durch eine Fehlregulation von Genen; Erblinien werden jedoch nur äußerst selten und vor allem bei Syn- oder Polydaktylien beobachtet. Somit geben pränatale genetische Untersuchung bis dato, wenn überhaupt wenig Aufschluss über das Vorliegen einer kongenitalen Fehlbildung wobei wir hier sicherlich noch am Anfang einer Entwicklung stehen.
Je nach Ursache und Ausprägung stellen Deformitäten der oberen Extremität eine relativ große und äußerst heterogene Entität dar. Die Klassifikation nach Swanson wurde in den 1960er Jahren entwickelt und hat bis heute ihre Gültigkeit. Sie erlaubt jedoch lediglich eine grobe Einteilung der unterschiedlichen Fehlbildungen und berücksichtigt nicht die unterschiedlichen Ausprägungsformen innerhalb der jeweiligen Fehlbildungsgruppe, weswegen für fast alle Fehlbildungsarten zur besseren Einteilung wiederum eigene Klassifikationen entwickelt wurden. Um sämtliche Klassifikations-Systeme wieder „unter einen Hut“ zu bringen wurde unlängst die OMT(Oberg-Manske-Tonkin)-Klassifikation entwickelt, die sich aber zurzeit noch in Evaluation befindet.
Rolle der Eltern
Mit dem zunehmenden Wohlstand und der immer mehr in Anspruch genommenen Planbarkeit der Schwangerschaften hat sich auch die Erwartungshaltung gegenüber dem entstehenden Kind verändert. Früher sind Kinder buchstäblich meist „passiert“ und etwaige „Imperfektionen“ fanden leichter Akzeptanz. Demgegenüber stellt die Diagnose einer Deformität beim „geplanten“ Kind für die werdenden Eltern anfangs eigentlich immer eine Katastrophe dar. Zudem werden Dank der modernen hochqualitativen Bildgebung bei der Intrauterinen Diagnostik Deformitäten an den Extremitäten meist zu einem frühen Zeitpunkt erkannt, sodass sich für viele an dieser Stelle die Frage des Weiterführens oder des Abbruchs der Schwangerschaft stellt. Die Diagnose einer Handfehlbildung ist vor allem für medizinisch nicht vorgebildeten Eltern schwer einzuordnen. Das Internet bietet zwar die Möglichkeit sich selbstständig zu informieren, trägt aber in vielen Fällen zusätzlich zur Verunsicherung bei, nachdem es dem nicht Kundigen meist nicht möglich ist die exakte Diagnose zu stellen und viele abrufbare Inhalte nicht validiert sind.
An diesem Punkt gilt es daher die Eltern so rasch wie möglich im persönlichen Gespräch abzuholen und ihnen durch empathische, detaillierte und ehrliche Information über die Art der Deformität, etwaiger nötiger Behandlungen und deren Erfolgsaussichten, erwartbarer Beeinträchtigungen und einen Ausblick aufs Erwachsenenalter eine Grundlage für ihre Entscheidung zu bieten. Unrealistische Erwartungen liegen oftmals vor und müssen angesprochen und ausgeräumt werden, im Gegenzug werden realistische Erwartungen geweckt. Die Deformität nicht als „Missbildung“ oder „Fehlbildung“ sondern vielmehr im positiven Licht als „Besonderheit“ zu thematisieren, macht für viele Eltern das Vorhandensein einer funktionellen und kosmetischen Imperfektion überhaupt erst denkmöglich; gleichzeitig zeichnet diese Herangehensweise ein positives Bild, das in weiterer Folge die Übertragung positiver Gedanken und Gefühle auf das Kind ermöglicht. Das oft – insbesondere von Seiten der Mutter – vorhandene Schuldgefühl für die Deformität persönlich verantwortlich zu sein, muss adressiert werden, um eine psychologische Begleitbetreuung einleiten zu können. Nach der Geburt gilt es das Selbstbewusstsein der Eltern gegenüber dem auf Perfektion ausgerichteten und oft gedankenlos agierenden Umfeld zu stärken. Hier wird klar, dass auch die Eltern eine kontinuierliche und umfassende Betreuung brauchen. Durch positiven Zuspruch, ehrliche Information und kontinuierlichen Kontakt wird eine Vertrauensbasis geschaffen, die es den Eltern ermöglicht in ihren Entscheidungen den Behandlungsvorschlägen zu folgen.
Das Kind mit der Deformität
Die Hand dient als komplexes, sensibles Greiforgan nicht nur der Ausübung handwerklicher Tätigkeiten und der Nahrungsaufnahme, sondern ist als Kommunikationsinstrument auch in hohem Maße ästhetisch besetzt. Schon Säuglinge beginnen Objekte zu fassen und gezielt nach ihnen zu greifen. Spezifische Greiffunktionen, wie der Spitz-, Schlüssel- oder Kraftgriff entwickeln sich erst etwa ab dem 2. Lebensjahr, sobald dafür das entsprechende zerebrale Steuerzentrum ausgebildet ist. Für Kinder mit einer Deformität ist diese zunächst vollkommen irrelevant: Jegliches vorhandene sensible Greiforgan wird im Alltag eingesetzt um damit alle gewünschten Tätigkeiten auszuüben, und eben auf die Art und Weise, die die vorhandene Extremität ermöglicht. Ein Kind würde sich auch niemals über seinen Zustand beklagen, zumal es die Situation einer normalen, voll ausgebildeten Hand nicht kennt. Das an dieser Stelle oft propagierte „They do astonishingly well“ ist allerdings ambivalent zu betrachten: Zum einen kommen Kinder mit den vorhandenen Deformitäten tatsächlich im Alltag sehr gut zurecht, andererseits sind keinerlei Tendenzen dahingehend zu beobachten, dass sich eine Deformität mit den Jahren „auswächst“. Vielmehr aggraviert das Wachstum der gesunden und das Zurückbleiben der fehlangelegten Strukturen den Zustand über die Jahre mitunter zusehends, was eine frühzeitige spezifische Behandlung notwendig macht.
Wie bereits erwähnt, treten Deformitäten der oberen Extremität meist unilateral, selten bilateral und nur gelegentlich im Zusammenhang mit Syndromen auf. In den meisten Fällen ist eine völlig normale geistige Entwicklung zu erwarten, weswegen derartige Deformitäten keinesfalls als „Behinderungen“ anzusehen sind. Denn abgesehen von spezifischen chirurgischen oder physikalischen Behandlungen bezüglich der Deformität sind sonst in aller Regel keine weiteren medizinischen Maßnahmen erforderlich. Das soll auch in der Erziehung bzw. Betreuung berücksichtigt werden: Wie jedes andere Kind sollen die Betroffenen ihre Grenzen austesten und kennen lernen. Die Eltern sollen das Kind genau beobachten um eventuell Neigungen fördern zu können und a priori keine Aktivität aufgrund der Deformität verbieten. Betreuungspersonen sollen allerdings darauf hingewiesen werden, dahingehend Rücksicht zu üben, da gewisse – vor allem sportliche – Aktivitäten dem Kind unter Umständen nicht möglich sind.
Das „Anderssein“ wird von den Kindern üblicherweise ab dem Kindergartenalter, mit dem Beginn der intensiveren sozialen Interaktion mit Gleichaltrigen, wahrgenommen. Diese Fragestellung soll dann von Eltern und Betreuern proaktiv angesprochen werden, eventuell mithilfe psychologischer Unterstützung, um die Situation sowohl für das Kind als auch andere Kinder aus der Gruppe zu klären, das Selbstbewusstsein des Kindes zu stärken (Stichwort: „Besonderheit“, nicht „Fehlbildung“!) und Mobbing vorzubeugen. In der Pubertät kann die Deformität für die Betroffenen aus ähnlichen Gründen erneut zum psychischen Problem werden. Danach sind diese jungen Erwachsenen üblicherweise gut sowohl psychisch als auch physisch an ihre Deformität adaptiert und gut in der Gesellschaft integriert. Abbildung 1 illustriert das zu berücksichtigende Umfeld von Kindern mit einer kongenitalen Deformität.
Die Behandlung kongenitaler Fehlbildungen der oberen Extremität
Ziel der Korrektur kongenitaler Deformitäten an der oberen Extremität ist es, dem Kind ein sensibles und im Alltag voll funktionstüchtiges Greiforgan zu Verfügung zu stellen. Der ästhetische Aspekt darf dabei auch nicht außer Acht gelassen werden, wobei es nach wie vor nicht möglich ist, in jedem Fall eine „normale“ Hand zu rekonstruieren Abb 2
Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Hand etwa ab dem 2. Geburtstag fixer Bestandteil des Körperschemas ist, und dass das motorische Steuerzentrum im Gehirn ab diesem Zeitpunkt soweit entwickelt ist, dass es auch komplexere Bewegungsabläufe zulässt, sollte die Korrektur der Deformität idealerweise vor diesem Zeitpunkt erfolgen. Wegen des Narkoserisikos werden die Eingriffe frühestens ab dem 6. Lebensmonat vorgenommen, mit dem Ziel dem Kind ab Ende des 2. Lebensjahres das definitive Greiforgan zu Verfügung zu stellen um eine optimale Integration der Handfunktion ins Körperschema zu gewährleisten. Sollten Eingriffe zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen, ist dafür unbedingt das Einverständnis des Kindes erforderlich. Die Entfernung eines akzessorischen Fingers kann für ein Kind im Vorschulalter ohne entsprechende Vorinformation eine regelrechte Katastrophe darstellen. Deformitäten, die erst im Zuge des Wachstums erkennbar werden, sollten so früh wie möglich korrigiert werden um Folgeschäden zu vermeiden. Das Verschieben eines Eingriffs bis nach Abschluss des Wachstums ist nur in seltenen Fällen sinnvoll.
Die Art der Korrektur hängt selbstverständlich von der Art der Deformität ab und bedient sich im Grunde aller bekannten Techniken der modernen plastischen Chirurgie und Kinderorthopädie. Die operativen Techniken reichen über simple Resektionen, kleinere Hautlappenplastiken und Hauttransplantationen bei der Trennung von Syndaktylien oder Korrektur von Polydaktylien über Zeigefinger-Pollizisationen, mikrochirurgischen Zehentransfer zum Ersatz fehlender Finger bis hin zu Osteotomien und dem Einsatz von Distraktoren oder Ringfixateuren zur Osteo- und Weichteildistraktion. Die Verfeinerung der operativen Techniken in den letzten Jahren hat viele operative Verfahren an den Händen von Kleinkindern überhaupt erst möglich gemacht Abbildung 3
Für bestimmte, komplexe Deformitäten wurden auch Standardalgorithmen zur Behandlung etabliert. Zusätzlich zur operativen Korrektur, und nicht zuletzt um auch maximale Funktionalität zu erhalten, ist die physio- und ergotherapeutische Nachbehandlung zur Schienenbehandlung und Remobilisation unabdingbar.
In manchen Fällen wird es nicht möglich sein, den Kindern ein adäquates Greiforgan zu Verfügung zu stellen. In solchen Situationen ist es erforderlich die Kinder mit entsprechenden Hilfsmitteln auszustatten um ihnen ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben zu ermöglichen. Die Hilfsmittel umfassen einfache Tools wie Becherhalterungen oder Griffverstärker, aber auch spezielle Lenker bei Fahrrädern oder speziell geformte Griffe für Werkzeuge des täglichen Bedarfs.
Im Bezug auf Deformitäten haben Prothesen eine Sonderstellung. Sogenannte Schmuckprothesen, die in erster Linie fehlende Gliedmaßen (-Anteile) ersetzen sollen, sind asensibel, folglich im Alltag eher im Weg und werden daher kaum getragen. Dementsprechend soll eine prothetische Versorgung nur dann vorgeschlagen werden, wenn sich daraus auch ein funktioneller Nutzen im Alltag für den Betroffenen ergibt, und niemals aus rein ästhetischer Indikation. Bei bilateralen aber auch unilateralen Fehlen von Gliedmaßen wie bei Peromelie können Prothesen sinnvoll sein und vor allem durch Erweiterung des Aktionsradius zu wichtigen Hilfswerkzeugen im Alltag werden. Myoelektrische Prothesen sind ebenfalls asensibel und sollten den Kindern im Bedarfsfall als zusätzliche Hilfestellung angeboten werden, jedoch ohne Verpflichtung diese zu tragen. Insgesamt sind gerade bei Kindern die simpleren, robusten Modelle den komplexeren und weniger widerstandsfähigen High-Tech-Prothesen vorzuziehen.
Schlussfolgerung
Die Behandlung von Deformitäten der oberen Extremität ist so komplex und vielseitig wie die Deformitäten selbst und braucht ein gesamtheitliches Behandlungskonzept unter kontinuierlicher Einbeziehung der Eltern. Die Korrektur der Deformitäten bedient sich des gesamten Spektrums plastisch-chirurgischer und kinderorthopädischer Verfahren. Prothetische Versorgungen spielen dabei eine eher untergeordnete Rolle. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass bei den Kindern meist eine völlig normale geistige Entwicklung zu erwarten ist und aufgrund der guten Behandlungsmöglichkeiten können die Betroffenen häufig ein selbstständiges und weitgehend „normales“ Leben führen.
Tabelle 1: Swanson-Klassifikation.
Formationsfehler | Transversal | Endständig | Phalangeal, karpal, metakarpal, Unterarm, Oberarm |
Interkalar | Symbrachydaktylie, Phokomelie | ||
Longitudinal | Radiale (präaxiale) oder ulnare (postaxiale) Klumphand, Spalthand | ||
Differenzierungsfehler | Syndaktylie, radioulnare Synostosen, Kamptodaktylie, Klinodaktylie | ||
Duplikation | Polydaktylie, triphalangealer Daumen | ||
Überwachstum | Makrodaktylie | ||
Hypoplasie | Daumenhypoplasie, Madelung-Deformität | ||
Schnürring-Komplex | |||
Generalisierte Skelettanomalien | Apert-Syndrom, Poland-Syndrom, Arthrogrypose |
Abbildung 1: Kind mit kongenitaler Deformität und Eltern im sozialen Gefüge.